Wer Geschwister hat, weiß, wie eng die Bindung untereinander ist. Nur der Gedanken daran, ohne den anderen zu sein, tut im Herzen weh. Man wächst zusammen auf, man hat Geheimnisse vor den Eltern, unterstützt sich, wo man nur kann. Man wird gemeinsam erwachsen, teilt Alltagsprobleme und macht Witze über das verdammte Leben, das plötzlich so viel komplizierter geworden ist. Je älter man wird, desto öfter blickt man zusammen auf die Kindheit zurück, wie man im Sandkasten gespielt oder sich auch mal ungerecht behandelt gefühlt hat, weil der andere etwas durfte, was man in seinem Alter nicht durfte.

Geschwisterliebe ist eine der stärksten Verbindungen, die man aufbauen kann.

Wie fühlt man sich, wenn der andere plötzlich nicht mehr da ist?

 

Ella und ihre sechs Jahre ältere Schwester Yvonne sind ein Herz und eine Seele. Weil ihre alleinerziehende Mutter in Schichten arbeiten geht, sind die beiden Mädchen oft auf sich allein gestellt.

Yvonne kümmert sich um Ella, bringt sie ins Bett und liest ihr vor. Die beiden streiten nie und sind immer füreinander da.

Selbst als Yvonne auszieht und eine eigene kleine Familie gründet, ist die Beziehung der beiden Schwestern enger denn je. Sie schreiben fast täglich Briefe, obwohl Yvonne nicht weit entfernt wohnte.

Als die Mutter der beiden mit ihrem neuen Lebensgefährten in den Urlaub fährt, soll die damals dreizehn Jahre alte Ella für diese Zeit bei ihrer großen Schwester bleiben. Da aber auch ihre Stiefschwester, zu der Ella kein gutes Verhältnis hat, in dieser Zeit bei Yvonne ist, entscheidet sich die Dreizehnjährigejährige, für sechs Tage bei ihrer Großmutter unterzukommen. Die restliche Zeit will sie wie geplant, bei ihrer Schwester verbringen.

Als Ella von ihrer Großmutter abgeholt wird und sich von Yvonne verabschieden soll, fühlt sie bereits, dass etwas nicht stimmt.

 

»Ich hing an meiner Schwester und weinte nur. Ich wollte sie nicht loslassen und sie mich nicht. So hatten wir uns vorher noch nie verabschiedet. Wir wussten nicht, was mit uns los war.«

 

Nach den sechs Tagen ruft Ella ihre Schwester an, um ihr zu sagen, dass sie noch einen Tag länger bei ihrer Oma bleiben will.

 

»Das war der größte Fehler meines Lebens.«

 

An diesem Tag, der mittlerweile bereits vierundzwanzig Jahre zurückliegt, überredet Ellas Stiefschwester Yvonne, sie in die Disco zu begleiten. Auf dem Weg dahin ist der Fahrer zu schnell und verliert die Kontrolle über den Wagen, in dem auch Yvonne sitzt. Als einzige von fünf Personen wird sie lebensbedrohlich verletzt. Sie kommt mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus, wo sie fünf Tage später an Organversagen stirbt.

 

»Seitdem fehlt mir meine bessere Hälfte.«

 

Ella macht sich noch heute große Vorwürfe, weil sie an diesem Tag bei ihrer Großmutter blieb und nicht zu Yvonne wollte. Doch auch ihrer Stiefschwester gibt sie die Schuld daran.

Weil die Ärzte der Meinung sind, es wäre besser für Ella, darf sie ihre Schwester im Krankenhaus nicht mehr sehen. Noch heute bereut sie sehr, dass sie keine Möglichkeit hatte, sich von ihr zu verabschieden.

Yvonnes Mutter nimmt ihre beiden Töchter zu sich und zieht sie auf wie ihre eigenen Kinder, und auch Ella kümmert sich um die beiden Mädchen. Die beiden Frauen versuchen, stark zu sein, doch vor allem Ella hat mit dem Tod ihrer engsten Vertrauten zu kämpfen.

 

»Ich saß oft nachts stundenlang auf dem Friedhof und wollte dann auch sterben.«

 

Ella betäubt sich mit Tabletten, weil sie den Schmerz nicht mehr fühlen will. Dank ihrer Mutter hat sie jedoch nicht die Chance, ihrer Schwester in den Tod zu folgen.

 

»Meine Mama hatte sowieso schon ein Kind verloren, woran sie kaputtgegangen ist. Wenn sie mich dann auch noch verloren hätte, wäre sie ganz daran zerbrochen.«

 

Heute weiß Ella, dass es falsch war und wie kostbar jeder einzelne Tag ist. Ihr Motto lautet seitdem: »Lebe jeden Tag, als wenn es dein letzter wäre.«

Dennoch fällt es ihr nach wie vor schwer, wieder so ein enges Verhältnis zu einem Menschen aufzubauen, aus Angst vor dem Schmerz, der entsteht, wenn man denjenigen verliert. Die Beziehung zu ihrer Mutter wurde durch den Verlust ihrer Schwester aber noch enger. Sie sind nicht nur Mutter und Tochter, sondern auch beste Freundinnen. Auch bei ihrem Mann und ihrem Kind hat sie diesbezüglich keine Probleme. 

Halt, um alles durchzustehen, geben ihr ihre Mutter und ihr bester Freund, aber auch die Liebe zu Büchern. In andere Welten abzutauchen hilft ihr, sich von all den Problemen ihres Alltags zu erholen.

 

Ihre Schwester Yvonne behält Ella als liebenswerten und hilfsbereiten Menschen in Erinnerung. Obwohl Yvonne selbst nie viel hatte, kümmerte sie sich immer um diejenigen, die noch weniger hatten. Allen anderen sollte es gut gehen, auch wenn es ihr schlecht ging.

Ella weiß, dass der Schmerz nie vergehen wird und noch heute gibt es Tage, an denen es ihr deswegen schlecht geht. Dass sie sich nicht verabschieden konnte, sitzt tief. Wenn Ella die Möglichkeit hätte, würde sie noch folgende Worte an ihre Schwester richten:

 

»Ich würde ihr sagen, dass ich sie über alles liebe. Dass ich sie vermisse und dass es mir leidtut, dass ich an dem Tag nicht schon nach Hause kam und es da vielleicht nicht passiert wäre. Dass ich mich um Mutti kümmere und auf ihre beiden Mädchen aufpasse.«

 

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Diese Geschichte wurde mir anonym erzählt.