Geschlagen. Misshandelt. Eingesperrt.

 

Als ich Neles Geschichte zum ersten Mal gehört habe, fühlte ich viele verschiedene Emotionen gleichzeitig. Ich war betroffen, geschockt und habe gleichzeitig schreckliche Wut empfunden. Es ist eine Geschichte voller Ungerechtigkeit, die mich eine lange Zeit nicht losließ und mich bis heute immer noch beschäftigt. Während andere Menschen mit dem Gedanken »Was geht es mich an?« vermutlich einfach den Computer ausgeschaltet oder das Handy beiseitegelegt hätten, fragte ich mich: »Wie verkraftet eine junge Frau so ein Schicksal? Wie schafft sie es, jeden Tag aufzustehen und ihr Leben zu leben?«

 

Die Antwort erhielt ich prompt. Eine meterhohe Mauer, die sie sich zum Selbstschutz errichtet hat. Eine Mauer, die lange Zeit niemand durchbrechen konnte und die dafür sorgte, dass Nele sich in ein Schneckenhaus zurückzog.

»Jeder hat sein Happy End verdient«, habe ich in einem unserer Gespräche zu ihr gesagt. Ich erwartete eine Antwort mit ungefähr diesem Wortlaut: »Ja, vielleicht irgendwann.« Die Erwiderung, die ich allerdings in Wirklichkeit darauf erhalten hatte, löst noch heute Unbehagen und Traurigkeit in mir aus.

 

»Ich bin Realistin!«

 

Drei einfache Worte, die mich stocken und noch einmal über Neles Schicksal nachdenken ließen. 

 

 

Als Nele fünfzehn Jahre alt ist, stirbt ihr Vater an Krebs. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist von Anfang an unterkühlt. Mit dem Tod des Vaters verliert Nele nicht nur den liebenden Elternteil in der Familie, sondern auch ein Stück von sich selbst. 

 

»Ich habe irgendwann angefangen zu rebellieren.«

 

Nele ist kaum noch Zuhause und verbringt die meiste Zeit bei einer Freundin. Die beiden Mädchen gehen feiern, leben in die Nacht hinein und denken nicht an das, was kommen kann. Vor allem Nele genießt den Moment, denn sie ist es leid, nach den Vorschriften und Regeln ihrer Mutter zu tanzen.

Doch diese Partynächte sollen für Nele einen fatalen Ausgang haben: Häusliche Gewalt!

In einem Club lernt Nele Devon kennen und lieben. Er scheint der perfekte Freund zu sein – umsorgt und beschützt sie. Doch das Blatt wendet sich schnell. 

 

»Ich wusste nicht, was für ein Typ Mann das ist und war so blauäugig.«

 

Je länger Nele und Devon zusammen sind, desto mehr verändert er sich. Devon wird zunehmend aggressiver und verliert die Kontrolle über sich selbst. Er schlägt und beleidigt sie.

Nele ist ängstlich und sucht Schutz in ihren eigenen Gedanken. Sie glaubt Devons Worten, wenn er versucht, sie mit Entschuldigungen bei sich zu halten, und beeinflusst sie schließlich so, dass sie sich fürchtet zu gehen. 

Als Nele endlich einen Fluchtgedanken fasst, ist es bereits zu spät. Devon hat seine Mittel und Wege sie bei sich zu halten. Er sperrt sie ein, lässt sie beobachten und stellt ihr Fallen, um sie gegebenenfalls schnell wieder zu sich zurückzuholen. Unzählige Blutergüsse, ein verdrehtes Handgelenk und seelische Verletzungen sind die Folge.

Eines Tages bemerkt Nele, dass sie schwanger ist und anfangs bricht ihre Welt völlig auseinander. Auf die Zustimmung ihrer Mutter kann Nele nicht hoffen. Diese versucht, sie davon zu überzeugen, dass Abtreibung ihre einzige Chance ist, lässt sie aber immerhin zurück nach Hause kommen. Nele weiß, dass sie ihr Kind nicht in Devons Nähe aufziehen kann und nimmt das Angebot ihrer Mutter notgedrungen an.

Allerdings bleiben die Probleme im Elternhaus nicht aus. Es kommt zu Streit und die Differenzen scheinen unüberbrückbar. 

Eines Tages wird Nele vor die Wahl gestellt. Sie dürfte im Haus der Mutter wohnen bleiben, wenn sie das Kind abtreibt, andernfalls muss sie gehen. Nele trifft ihre Entscheidung schnell. Auf keinen Fall würde sie das kleine Wesen in ihrem Bauch aufgeben, nur um sich dem Willen ihrer Mutter zu beugen. Nele zieht aus und findet schließlich ein WG-Zimmer für den Übergang. Anschließend kommt sie in einem Mutter-Kind-Heim unter und kämpft sich durch.

 

»Ich frage mich bis heute, wie ich das geschafft habe.«

 

Obwohl es so scheint, als hätte Nele sich von Devon gelöst, gibt auch er nicht auf. Nach einer schweren Zeit, in der Nele sich nicht nur um eine eigene Wohnung kümmern, sondern auch dem Jugendamt beweisen muss, dass sie allein klar kommt, beginnt Devons Terror von Neuem. Er beginnt sie zu stalken, klingelt nachts bei ihr und tut so, als wäre nichts gewesen, wenn er ihr und ihrer kleinen Tochter zufällig in der Stadt begegnet.

 

»Ich habe so oft gedacht, wann hört das auf ... wann hat das ein Ende?«

 

Doch Nele will nicht länger das Opfer sein. Sie zeigt Devon wegen Stalking an, doch dieser wird dafür nicht verurteilt und erhält lediglich zwei Jahre Haft für eine andere Strafe. Ihre Anzeige wird von den Behörden fallen gelassen. Obwohl sie diese Niederlage einstecken musste, würde sie jederzeit wieder so handeln.

 

»Er darf nicht damit davonkommen.«

 

Dennoch macht es den Anschein, dass es für Nele etwas ruhiger wird. Einige Jahre später bekommt sie plötzlich Flashbacks, die durch Berührungen oder unüberlegte Sprüche ausgelöst werden. Immer wieder tauchen Bilder aus der Beziehung mit Devon vor ihrem inneren Auge auf. Nele entscheidet sich, eine Therapie zu machen. Sie erträgt zu diesem Zeitpunkt weder Berührungen noch Nähe. Sie vertraut niemandem und lässt sich nicht auf Beziehungen mit Männern ein. Dafür versucht sie ihrer kleinen Tochter all die Liebe zu schenken, die sie nicht bekommen hat. 

 

Fünf Jahre vergehen, bis das Blatt sich für Nele zum Positiven wendet. Als sie bei einer Freundin zu Besuch ist, trifft sie einen ehemaligen Schulkameraden wieder. Die beiden verstehen sich noch immer ausgezeichnet und verlieben sich auf Anhieb. Nele und Liam ziehen schnell zusammen, er akzeptiert ihre Tochter, die ihn ebenfalls sofort annimmt, und schon kurze Zeit später läuten die Hochzeitsglocken.

 

»Ich habe zuerst die Hoffnung aufgegeben, je wieder glücklich zu werden. Ich dachte, ich bleibe für immer allein.«

 

Heute blickt Nele in eine gute Zukunft, obwohl sie noch immer mit den Folgen ihrer Erlebnisse zu kämpfen hat. Sie wünscht sich, ein Leben frei von Panikattacken und Flashbacks, ebenso wie sich anderen Menschen ohne Angst nähern und ihre neu gewonnene Freiheit genießen zu können. Doch an erster Stelle steht nach wie vor ihre Tochter. 

 

»Irgendwann, wenn sie älter ist und es besser versteht, erkläre ich es ihr. Sie hat ein Recht darauf, das zu erfahren.«

 

Aus der unsicheren Jugendlichen ist eine starke, erwachsene Frau geworden, die weiß, was es heißt, für ihr Leben zu kämpfen. Das ist auch das, was sie allen Frauen rät, die in ihrer Situation stecken. 

 

»Man sollte jede Hilfe annehmen, die man kriegen kann. Umso besser lernt man, damit umzugehen, auch wenn es schwerfällt, man keine Kraft hat und ausgelaugt ist. Es lohnt sich, zu kämpfen!«


Hinweis: Diese Geschichte wurde mir anonym erzählt. Die Namen wurden aus dem gleichnamigen Roman »Alles steht in Flammen« übernommen. Der Roman basiert in groben Zügen auf dieser Geschichte.

 

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